Gelegentlich, wenn ich über einem neuen Romankonzept brüte oder mich durch dicke Geschichtsbücher lese, frage ich mich, ob es heute eigentlich noch Sinn ergibt, historische Romane zu schreiben. – Sollte man nicht lieber zeitgenössische Stoffe bearbeiten? Sich zu den wichtigen Herausforderungen der Gegenwart äussern?
Mal ganz abgesehen von der Frage, ob ich zu diesen Herausforderungen überhaupt irgendetwas Relevantes zu sagen hätte, gibt es natürlich gute Gründe, warum ich mich für das Genre des historischen Romans entschieden habe. Erstens bin ich überzeugt, dass Geschichtskenntnisse helfen können, die Welt, in der wir leben, besser zu verstehen, und zweitens glaube ich, dass sehr viele Menschen ein Bedürfnis nach historischer Einordnung haben.
Wie gross dieses Bedürfnis ist, kann man in der gegenwärtigen Krisensituation sehr gut beobachten. Historiker*innen müssen erklären, wie der ukrainische Nationalstaat entstand, und wie sich dessen Verhältnis zu Russland über die letzten Hundert Jahre entwickelt hat. Auch die Besetzung der Ukrainischen Sowjetrepublik durch Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg ist ein Thema, das Historiker*innen – mit Blick auf Putins abstruse Behauptung, die heutige Ukraine „entnazifizieren“ zu müssen – dieser Tage in den Medien erörtern dürfen.
Wer sich in eines der genannten Themen vertiefen möchte, dem oder der stehen hervorragende Geschichtsbücher zur Verfügung, „Bloodlands“ von Timothy Snyder, zum Beispiel, das akribisch nachzeichnet, wie Osteuropa in den 1930er- und 40er-Jahren von Stalin und Hitler mit Terror und Gewalt überzogen wurde. Allerdings ist der Kreis von Menschen, die historische Sachbücher lesen relativ klein. Zumindest verglichen mit der Zahl von Menschen, die gerne unterhaltsame Romane lesen.
Ich wiederum – und dies ist der dritte wichtige Grund für meine Genre-Wahl – lese zwar gerne historische Fachliteratur, doch fehlt mir die Begeisterung für die Archivarbeit, die für das Verfassen von Geschichtsbüchern unabdingbar ist. So wurde denn auch nichts aus meinen wiederholten Anläufen, eine Doktorarbeit zu schreiben. Stattdessen entdeckte ich das literarische Schreiben für mich. Es eröffnete mir einen Weg, Menschen zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anzuregen, der mir gangbarer und vor allem lustvoller erschien als das wissenschaftliche Arbeiten.
Nach zwei fertiggestellten historischen Romanen vermute ich, dass mich eine Doktorarbeit kaum mehr Zeit und Energie gekostet hätte als diese beiden Bücher. Ich bereue den Entscheid „pro Roman“ trotzdem nicht. Und brüte schon über dem nächsten Projekt.