In einem der ersten Einträge auf diesem Blog habe ich den „Sound“ meines Erstlings „Zu keiner anderen Zeit“ beschrieben. Höchste Zeit also, auch über den „Klang“ meines neuen Romans „Jederstadt„ zu schreiben.
Um es gleich vorwegzunehmen: Er klingt düsterer, melancholischer als der erste – eher nach Rachmaninoff, denn nach Mozart –, und dort, wo seine Begleitmusik gefälliger daherkommt, ist es ein ambivalentes Vergnügen, ihr zuzuhören.
„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“, heisst ein Sprichwort, das sinnigerweise auf einen Liedtext (von Johann Gottfried Seume, 1804) zurückgeht. Es drückt eine gefühlte Wahrheit aus, an die ich als passionierte Hobby-Sängerin gerne glauben würde.
Nur leider stimmt sie nicht.
Wie ein Blick auf den historischen Kontext des Romans, das nationalsozialistische Deutschland, offenbart, schliessen sich das Böse und der Gesang bzw. die Musik im Allgemeinen nicht aus.
Hitler war ein grosser Opernliebhaber und anders, als oft behauptet, verstand er durchaus etwas von Musik, speziell von der Wagners, die er über die Massen schätzte.* Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamts und rechte Hand von Reichsführer SS Himmler, beherrschte die Geige fast wie ein Profi. Goebbels war zwar kein musikalischer Virtuose, aber er wusste, wie man auf der Klaviatur der Menschenverführung spielt bzw. wie man Musik als Propagandawaffe einsetzt. Es kommt nicht von ungefähr, dass man so manchen „Hit“ von damals heute noch spontan nachträllern möchte.
Die singenden Stars der Zeit wie Zarah Leander, deren Schlager stellvertretend für viele andere in meinem Roman aus dem Grammophon schallen, brachten die „Volksgemeinschaft“ im Kino und vor dem Radio zusammen. Aber man sang auch selbst oder wurde vom Regime zumindest dazu angehalten.
Liederbücher gehörten zur Grundausstattung jedes Hitlerjungen bzw. Deutschen Mädels, ja, selbst die SS hatte ihre Liederfibeln. Darin fanden sich neben dem „Horst-Wessel-Lied“ und anderen Liedern der „Bewegung“ so bekannte Volksweisen wie „Das Wandern ist des Müllers Lust“, „Im Frühtau zu Berge“ oder (zu meiner Überraschung, wohl für die Heimweh geplagten eidgenössischen SS-Freiwilligen) „Vo Luzern uf Wäggis zue“.
In der auf das Leichte und Volkstümliche ausgerichteten NS-Propaganda erhielt das Kunstlied weniger Raum als Heimatlieder und Schlager. Doch in den besseren Kreisen der Gesellschaft – zu denen sich die braune Parteielite trotz aller Anbiederung an das „einfache Volk“ selbstredend rechnete – behauptete es seinen Platz. Die „deutsche“ Romantik durfte im Repertoire einer Sängerin im Dritten Reich natürlich nicht fehlen. Darum erklingen auch Schubert und Schumann in meinem Buch, nur widerwillig gesungen zwar von der deutsch-russischen Roman-„Heldin“ Irina, aber begeistert beklatscht von Jederstadts Nazi-Grössen.
Am Ende des Romans ertönen in Jederstadt nur noch die Stalin-Orgeln.
Zur Untermalung des Epilogs denke man sich dann leise Swingmusik aus den Vereinigten Staaten.
P. S.: Wer in meinen Roman hineinhören will, ist herzlich eingeladen zur musikalischen Lesung am Freitag, 19. August 2022, in Zürich (für Details siehe Programm unten).
*) Das Buch „Wehvolles Erbe“ von Hans Rudolf Vaget gibt einen differenzierten Einblick in Hitlers Wagner-Verehrung. Schon etwas älter, aber immer noch sehr lesenswert ist überdies die Biografie „Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth“ von Brigitte Hamann (vergriffen).