Vor zwei Wochen habe ich hier im Blog den richtigen Umgang von Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit Kritiken thematisiert. Dabei habe ich aus Platzgründen ein wichtiges Faktum unbeachtet gelassen: Für die meisten Autorinnen und Autoren ist die entscheidende Frage nämlich nicht die, wie sie mit Kritik umgehen sollen, sondern die, wie sie es überhaupt schaffen, von der Kritik wahrgenommen zu werden. Oder anders formuliert: Nicht ihre Kritikfähigkeit steht zur Debatte, sondern die Kritikwürdigkeit ihres Werks.
Bei den Zehntausenden von Neuerscheinungen, die im deutschsprachigen Raum allein im Bereich Belletristik jedes Jahr auf den Markt kommen, gleicht die Jagd nach der Aufmerksamkeit des Lesepublikums im Allgemeinen und der Literaturkritik im Speziellen einem Kampf gegen Windmühlen. Schreibende, aber auch Verlage, die nicht bereits über eine gewisse Bekanntheit verfügen, habe es dabei besonders schwer. Sie buhlen oft vergebens um die Gunst der mehr oder weniger einflussreichen professionellen Leser*innen, die ihnen zu mehr öffentlicher Wahrnehmung verhelfen könnten.
Um zu verstehen, warum dies so ist, stellen wir uns am besten den Bücherstapel einer durchschnittlichen Literaturkritikerin oder – für die, die schon im Post-Feuilleton-Zeitalter angelangt sind – Literaturbloggerin vor.
Zuoberst liegt das, was unbedingt gelesen werden muss: Der neueste Roman der berühmten Autorin X, das mit Spannung erwartete Spätwerk des Buchpreisträgers Y, der mit grossem Pomp angekündigte Erstling des Fernsehstars Z, der neuerdings auch noch Bücher schreibt, und – nicht zu vergessen – die „Entdeckung der Saison“, die der aufstrebende Kollege A gerade gemacht hat, denn schliesslich stehen auch Literaturkritiker*innen in Konkurrenz zueinander und können es sich nicht leisten, einen „Hype“ zu verpassen, unabhängig davon, ob er gerechtfertigt ist oder nicht.
Unter diesen nicht wenigen „Musts“ auf ihrem Bücherstapel findet sich das, was die fiktive Kritikerin unbedingt lesen will: Die Neuerscheinungen aus der Feder ihrer Lieblingsschriftsteller*innen, die Geheimtipps ihrer Lieblingsbuchhändlerin oder ihres Lieblingsbibliothekars, die Veröffentlichungen ihrer Lieblingsverlage. Erst unter diesen vielen „Want-Tos“ liegen dann noch die paar „Maybes“, die unsere Kritikerin sich anschaut, wenn sie nach all dem Anderen überhaupt noch Musse zum Lesen hat.
Wie aber ergattert sich ein bislang unbekannter Autor bzw. dessen Verlag einen der begehrten Stapelplätze, die neben der Pflicht- und Lieblingslektüre der Kritiker*innen noch zu haben sind? Was macht ein Werk, das in keine der beiden erstgenannten Kategorien fällt, interessant genug, damit eine Literaturkritikerin ihre spärliche Restarbeitszeit dafür opfert und es vielleicht sogar in der Zeitung oder auf ihrem Blog bespricht? (Ob lobend oder nicht, ist für unbekannte Autorinnen und Autoren dabei erst einmal sekundär. Viel wichtiger ist, als „Noname“ überhaupt besprochen zu werden.)
Es gibt wohl ebensowenig eine wissenschaftliche Antwort auf diese Frage wie auf die, wie man einen Bestseller landet. Was übrigens mitnichten dasselbe ist. Kritiker*innen-Lob führt nicht zwingend zu kommerziellem Erfolg, und umgekehrt führt der Weg von der Bestsellerliste nicht unbedingt in die Kritikerspalten.
Der blutrünstige Krimi und die süffige Liebesgeschichte, die im Laden weggehen wie warme Semmeln, bleiben von der Literaturkritik in der Regel unbeachtet. Dagegen punktet die rotzfreche Jung-Autorin mit ihren experimentellen Kurzgeschichten über die Lebensnöte jugendlicher Grossstadtmenschen bei Kritiker*innen tendenziell eher als auf dem Buchmarkt; dito der gestandene Schriftsteller mit seinem klugen, aber etwas langatmigen Roman über die Seelenqualen eines Physikprofessors in den besten Männerjahren.
In der Schnittmenge zwischen Kritikerspalte und Bestsellerliste befinden sich erfahrungsgemäss Bücher, die „klassische“, soll heissen: allgemein menschliche Themen auf eine Art abhandeln, die auch für Kritiker*innen geniessbar ist, sprich: die dem Verdacht des Banalen ebenso auszuweichen vermögen, wie dem Vorwurf des Kitsches, dabei aber lesbar und unterhaltsam genug sind, um auch einem „Laienpublikum“ zu gefallen. Im Übrigen gilt: Gutes Aussehen oder konkret: ein attraktives Cover schadet auch bei Büchern nicht, wenngleich Kritiker*innen diesbezüglich ebenfalls einen erleseneren Geschmack haben dürften als das breite Publikum.
Womit wir bei der – Pardon! – banalen Schlusspointe dieses Blogbeitrags angelangt wären, dass Kritiker*innen halt auch nur Menschen sind, über deren Geschmack sich nicht streiten lässt. Da der Geschmäcker aber bekanntlich gar viele sind, findet sich in der grossen weiten Welt der Literaturkritik gewiss auch irgendwo eine*r, dem*der das Werk unseres bisher unbekannten Autors gefällt.